Im Wortlaut veröffentlichen wir hier die Rede von Adolf Harnack, die er 1908 in Steglitz zum Begräbnis von Friedrich Althoff gehalten hat.

(Steglitz ist ein Berliner Ortsteil im sechsten Verwaltungsbezirk Steglitz-Zehlendorf, der auf das historische brandenburgische Dorf Steglitz zurückgeht).

Quelle der Begräbnisrede:

Internationale Wochenschrift für Wissenschaft Kunst und Technik, hrsg. von Prof. Dr. Paul Hinneberg, Berlin, vom 31. Oktober 1908


FRIEDRICH ALTHOFF

Rede, 1908 gehalten bei seinem Begräbnis in der Kirche zu Steglitz

von Adolf Harnack

 

 

Der Friede Gottes sei mit uns. Amen.

 

Andächtige Trauerversammlung!

 

          Wieder hat die Hand Gottes einen teuren Mann aus unserer Mitte geführt, und es ist vielen unter uns, als wären sie verwaist. Wieder hat das Vaterland einen seiner besten Söhne verloren, und wir fühlen uns im tiefsten erschüttert. Wieder ist uns ein Führer entrissen, zu dem wir aufschauten, und wir fühlen uns im Innersten verarmt. Ja, wir dürfen wohl klagen, und der Schmerz hat hier sein Recht. Denn wo wir schwach waren, war er stark. Wo wir oft kleinmütig und müde wurden, blieb er hochgemutet und rastlos tätig. Wo unser Auge ins Dunkle sah, sah das seinige noch Licht und Weg, und wo es uns an Teil-

nahme und Liebe fehlte, war er voll Wohlwollen und Güte. Das werden wir nie vergessen, und unser Dank wird unauslöschlich in unserem Herzen bleiben. Aber es ziemt dieser Stunde, dass wir uns sein Bild gemeinsam vergegenwärtigen und uns zurückrufen, was er gewesen ist. Der Entschlafene hat mir in seiner letzten Anweisung sagen lassen, er wolle keine Lobrede, sondern nach dem Bekenntnis des Zöllners solle es gehen, Gott sei mir Sünder gnädig. Wir ehren den Willen des Entschlafenen, indem wir nicht ihm die Ehre geben, sondern dem, der ihn erschaffen hat; aber wir haben ein Recht darauf, in dieser feierlichen Stunde dessen zu gedenken, was uns in ihm geschenkt war. In unserer Bibel steht gleich- sam als Grabinschrift für einen Mann, der mehr gearbeitet und Größeres geleistet hat, als alle anderen, das Wort:

 

G o t t  h a t  u n s  n i c h t  g e g e b e n d e n  G e i s t  d e r  F u r c h t , s o n d e r n     d e r  K r a f t  u n d  d e r  L i e b e  u n d  d e r  Z u c h t.

 

         In das Licht dieses Wortes dürfen wir das Bild des Entschlafenen stellen. Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft - das galt von Friedrich Althoff in besonderer Weise, ja es gab seinem ganzen Wesen das Gepräge.

 

         Er war ein furchtloser Mann voll Kraft. Er übernahm ohne Zaudern die Verantwortung, wo er etwas als notwendig und heilsam erkannt hatte, und führte es durch ohne Ansehen der Person. Wie er den seltenen Mut der Initiative besaß, so auch den Mut, aller Schwierig- keiten, die sich ihm entgegenwarfen, Herr zu werden. Ja sein Mut wuchs nur, je höher sie sich auftürmten. Ich habe ihn nie bewegter, nie freudiger gesehen, als wenn die Stürme von allen Seiten bliesen und er eine ganze Flotte von Schiffen in den noch unbekannten Hafen zu führen hatte. Dann war er in seinem Element, und sein Mut stählte die Mitarbeiter. Dieser Mut war sein Genius, und seine Kraft war ein selbstloser, eiserner Fleiß.

 

         Aber seine Kraft war zugleich eine produktive Kraft. Er sah von jedem Punkte aus ins Große und auf zukünftige Fruchtgefilde. Jedes Korn wurde in seiner Hand zu einem Saat-

korn, und er fand für jede Sache, die man ihm vortrug, mit genialem Blick den fruchtbaren und praktischen Gesichtspunkt der Gestaltung. In diesem Kopfe kreuzten sich fortwährend die Projekte und schienen sich gegenseitig zu hemmen; aber sie hemmten sich nicht; er übersah sie alle, hielt Sachen, Gesichtspunkte und Personen mit dem treuesten Gedächtnis fest und führte seine Pläne durch. Wohl musste er auch manches allzu kühne Projekt fallen lassen. Er tat es nicht gern, kam auch häufig wieder auf sie zurück, aber er beschied sich zuletzt ohne Bitterkeit und ohne Enttäuschung. Wo er aber einsetzte, da warb er uner- müdlich Mitarbeiter und Genossen, hielt sie zusammen und führte sie auf die Höhe. In- dessen nicht minder griff er zu und stellte sich ganz in den Dienst, wenn andere ihm mit großen Angelegenheiten kamen und er sich überzeugt hatte, dass die Sache gut und förderlich sei. Er betrieb sie dann wie seine eigene, und man durfte sicher sein, dass sie gelingen werde; denn er war der unerschütterlichen, stolzen Überzeugung, dass in Preußen jede gute Sache zum Siege kommen werde.

 

         Und um welch ein Gebiet handelte es sich! Erst war es das Universitätswesen in seinem ganzen Umfange, dem seine Sorge galt - es war und blieb seine erste Liebe - , dann war es die Wissenschaft und das gesamte höhere Unterrichtswesen samt der Wissenschaft und der Technik und mit allen seinen zahllosen Beziehungen zur öffentlichen Wohlfahrt und zum ganzen Kosmos der Wissenschaft und des internationalen geistigen Lebens. Die Zeit seiner Wirksamkeit fiel in eine Epoche der Entwicklung, und namentlich der Erweiterung und Ausbreitung der Wissenschaft, Technik und Kultur, die vielleicht beispiellos ist. Dass unser Vaterland dieser Entwicklung hat folgen können, dass die Männer, die sie herbeigeführt haben, den Spielraum und die Mittel für ihre Kräfte erhielten, und dass dem Gedanken stets die Institution folgte, das ist nicht zum mindestens sein Werk. Blicken wir um uns auf das gesamte Gebiet des höheren Unterrichts, der Wissenschaft, der Technik und der Wohlfahrts-einrichtung durch die Wissenschaft - wo gibt es einen Aufschwung oder eine Einrichtung, bei der er nicht beteiligt gewesen wäre? Wenn ich eine Aufzählung beginnen wollte, wo könnte ich anfangen und wo enden? Überall ist  s e i n e  Kraft, dort begründend, hier fördernd, zu spüren. Nicht ein Denkmal hat er sich geschaffen, sondern in rastloser Arbeit Denkmal neben Denkmal. Sein Geist bleibt in ihnen lebendig wie sein Andenken. "Scientiarum moderator" (übersetzt: "Lenker der Wissenschaft") müsste die Inschrift auf seinem Grabstein lauten.

 

        Und wo er arbeitete, arbeitete er mit der unbedingten Zuversicht, dass jeder Fortschritt der  Erkenntnis und Wissenschaft ein Fortschritt der Menschheit sei, und dass es sich dabei um eine heilige Sache handle. Die kannten ihn schlecht, die an diesem Mann Idealis- mus und heiligen Ernst vermissten. Mit größerer Gewissenhaftigkeit im Beruf habe ich nie einen Mann arbeiten sehen als ihn. Wie oft aber ist diese Gewissenhaftigkeit missver- standen worden! So lebhaft, ja stürmisch er einen Gedanken oder ein Projekt aufnahm, so gewaltsam zwang er sich zur Vorsicht, ehe er handelte. Dazwischen schob er regelmäßig eine lange Zeit der Überlegung, die manchem nur zu lang schien, und die er durch uner- müdliche Erkundigungen ausfüllte. Wie er diese einzog und in Gesprächen und Briefen sich selber klärte, das war freilich oft wundersam. Seine Meinung von heute, die doch erst eine vorläufige war, stellte sich ihm in seinem raschen und feurigen Geist oft als definitiv dar, und daraus ergaben sich nicht selten Missverständnisse und Enttäuschungen bei andern. Aber nur darauf, das Richtige mit allen Mitteln zu finden, kam es ihm an, auf die Sache selbst. Das ist auch in immer weiteren Kreisen zur Anerkennung gekommen.

 

        Umschlossen aber war all sein Denken und Handeln von der Sorge für den Staat, sein Recht und seine Würde. Er war ein Staatsmann aus einer trefflichen Schule und hat seinem Straßburger Meister, von Möller, stets tiefe Dankbarkeit bewahrt. Aus dem Staatsgedanken schöpfte er Direktive und Kraft, d. h. aus einer heißen Liebe zum Vaterlande und aus der Treue gegen seinen König und Herrn. In königlichen Worten hat dieser ihm seinen Dank ins Grab nachgerufen. In der Wissenschaftspolitik, die mit der Kulturpolitik aufs innigste ver- schmolzen ist, ist die Sorge für den Staat ein wesentliches Element. Das Erkennen alle an, aber die Konsequenzen vermag nicht jeder zu überschauen. So ist ihm auch hier manche Gegnerschaft erwachsen. Man hat ihn einen Opportunisten ohne Grundsätze genannt; man hat seine innere Freiheit bezweifelt; man hat seine Motive verkannt, und ihn wohl auch dieser und jener Partei zugeschoben. In Wahrheit gehörte er keiner Partei an, weil er in seiner Stellung und in seiner Arbeit auf die Mithilfe aller rechnen musste - aber nicht nur deshalb; kein Wort habe ich häufiger von ihm gehört als "justitia fundamentum regnorum". (übersetzt: Die Gerechtigkeit ist das Fundament der Reiche, bzw. der Staaten). Er verstand darunter auch die aequitas, die Billigkeit und die Toleranz, und er sah in diesen Tugenden wie im Staatsleben, so auch in der Kirchenpolitik die eigentlich grundlegenden. In dem letzten Gespräch, das ich mit ihm vor einigen Tagen hatte, entwarf er den Plan eines interkon-fessionellen Toleranzbundes über allen Parteien, um das Vaterland zu stärken. Bis zum letzten Atemzug durchdrang diesen rastlosen Mann der Geist der Kraft, der Zucht und der wahren Freiheit; denn auch das gehört zu den Legenden, dass er je irgendwo Freiheit durch Bürokratie habe niederzwingen wollen. Er war in keinem Sinn ein Bürokrat, weder im guten noch im schlimmen Sinne. Und dass er es nicht war, das eben hat so Viele enttäuscht.

 

        Aber auch der Geist der Liebe durchwaltete ihn, der Geist der Vaterlandsliebe und des Wohl-wollens und der Güte gegen jedermann. Auch hier darf ich sagen: Die kannten ihn schlecht, die diesen Geist an ihm nicht herausfühlten und nicht durch die Außenseite seines Wesens zu ihm hindurchdrangen. Gewiss, er hatte seinen eigenen Stil sich zu geben, und es war nicht immer leicht, ja nicht immer möglich, sich in ihn zu finden. Aber diese starke und machtvolle Persönlichkeit, die wahrlich ihre Erfahrungen mit den Menschen gemacht hat, ist niemals ein Menschenverächter gewesen oder geworden, vielmehr ein Optimist blieb er, und es schlug ihm bis zuletzt ein warmes und mit-fühlendes, ja ein weiches Herz. Darf ich es sagen - es war überhaupt im Grunde dieser Persönlichkeit und so auch in seinem Gefühlsleben etwas Unmittelbares und Kindliches, wie es dem Genius zu eigen ist. Denen, die ihn kannten und verehrten, ist das nichts Neues, und auch die Kinder aller seiner Freunde wissen es. Es war ihm nicht leicht, auch nur einen Tag vorübergehen zu lassen, ohne jemand eine Freude zu machen - "diem perdidi" (übersetzt: Ich habe einen Tag verloren), das war dann seine Stimmung - , und seinen Freunden war er der zuverlässigste Freund und Ratgeber. Wie werden wir ihn vermissen! Aber auch in seinem amtlichen Wirken trat sein lauteres Wohlwollen als ein Grundzug hervor. Die Sorge für alle Hilfsbedürftigen und besonders für die Witwen und Waisen rechnete er zu seinen obersten Aufgaben, und er hat keine Mühe gescheut, den einzelnen zu helfen und das Los aller wirksam zu mildern. Mehr als einmal habe ich ihn erregt gesehen, als handle es sich um die wichtigste Staatsaktion, und es handelte sich um eine kleine Pension oder etwas Ähnliches! Er setzte in solchen Fällen sein ganzes Interesse und seine ganze Arbeitszeit ein. Wie viele Tränen hat er getrocknet, und wie vielen hat er den Lebensweg ermöglicht oder erleichtert! Wenn wir heute - und namentlich die Universitäten, denen sein Herz gehörte - ihm öffentlich danken, was er in Unterricht und Wissenschaft geleistet und geschaffen hat, so steht hinter uns ein großer, verborgener Chor von zahllosen Männern, Frauen und Kindern, die ihm für seine Herzensgüte und Hilfe danken.

 

         G o t t  h a t  u n s  n i c h t  g e g e b e n d e n  G e i s t  d e r  F u r c h t ,

s o n d e r n  d e r  K r a f t  u n d  d e r  L i e b e  u n d  d e r  Z u c h t . Wie er gelebt hat, so ist er gestorben, aufrecht und tätig bis zum letzten Augenblick, die alten Pläne ver- folgend, neue hinzunehmend, aufgeschlossen und liebevoll für seine Umgebung. Ja, als schon Todesschwäche ihn befiel und ihm auch sein Zustand ganz klar war, setzte er doch wenigstens auf Stunden die gewohnte Arbeit fort. Solange er lebte, konnte und wollte er nicht ruhen. Keine Todesfurcht erschütterte seine Seele; er traf seine letzten Anordnungen bis ins Kleinste. Dem jungen Freunde, der sie aufnahm, sagte er: "Sie glauben gar nicht, wie schön das Sterben ist." Er drückte der treuen Lebensgefährtin die Hand, mit der er so innig verbunden war, und deren Liebe und Sorge ihn so lange erhalten hat, und dann ohne Kampf und Not schlummerte er sanft hinüber.

 

         Ein abgeschlossenes Leben und das Lebenswerk eines Mannes, der nie geklagt hat, liegt vor uns. So soll auch unsere Klage verstummen gegenüber dem Dank für das, was uns in ihm geschenkt war. Wir handeln in seinem Sinne, wenn wir vorwärtsblicken! Wir wollen geloben und versuchen, ein jeder an seinem Teile, das Werk mit allem Ernst und mit aller Treue in dem Geiste fortzusetzen, in welchem er gearbeitet hat. Unser aller Verantwortung ist gewachsen, seit er nicht mehr ist, und er hat uns allen eine schwere Aufgabe hinter-lassen. In Gottes Namen wollen wir sie fortführen. Und die Seele des Entschlafenen befehlen wir in die Hände dessen, der ein Vater ist über alles, was Kinder heißt. Vor ihm sind wir alle oft unnütze Knechte und bedürfen seiner Barmherzigkeit und Güte. Das bekennen wir mit dem Entschlafenen und sprechen mit dem Psalmisten: " Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt; meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat." Requiescas in pace et lux perpetua luceat tibi! (übersetzt: Ruhe in Frieden und das ewige Licht leuchte über dir!) Amen.