Neugotik in St. Vincentius

Nicht nur der Kölner Dom: Im 19. Jahrhundert war der irrtümlich für deutsch gehaltene, tatsächlich französische Stil en vogue. Auch in St. Vincentius wurde Geld gesammelt, um Originales zu erhalten und historisierend zu erneuern

von Bettina Schack

Der flämische Kreuzaltar stammt aus dem 15. Jahrhundert, seine Predella dagegen von 1853.

Foto: Heiko Kempken

 

Dinslaken Sanieren, erhalten, gestalten, verändern. St. Vincentius wird renoviert und wie das Gotteshaus in einigen Jahren aussehen wird, ist derzeit noch offen. Eine Überlegung, die im Raume steht, ist eine Rückkehr zur alten Ausrichtung. Eine Kehrtwende von der 180-Grad-Drehung, mit der die Vergrößerung nach 1945 realisiert wurde, als nicht nur der Platz für die Gemeinde wuchs, sondern auch der neue Chorraum auf der Westseite errichtet wurde. Die Reproduktion eines alten Schwarz-Weißfotos vor dem hinteren Seiteneingang von St. Vincentius zeigt, wie der alte Chor zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgesehen hat.

 

Eng sieht es aus mit dem großen Kreuzaltar und dem noch größeren Triumphkreuz davor. Und doch war dies das Ergebnis eines Jahrzehnte langen Prozesses, die Innengestaltung von St. Vincentius zu verbessern, zu harmonisieren und zu modernisieren. Auch wenn gerade das, was damals als Wertschätzung des Alten galt, heute eher als modische Gratwanderung gilt: der Versuch, mit einer neogotischen Ausstattung der gotischen Architektur von St. Vincentius gerecht zu werden.

 

Das kunsthistorische Juwel der Kirche ist – neben dem Triumphkreuz – der flämische Kreuzaltar aus der Zeit aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts. Ein filigranes, meisterliches Werk, das zuletzt vor einigen Jahren von Kerzenruß gereinigt und restauriert wurde. Wirklich ernst muss es aber in der Mitte des 19. Jahrhundert gewesen sein. Der Altar drohte zu verrotten. So drastisch formuliert es Willi Dittgen in den „Stationen“, dem Buch zum 550-jährigen Bestehen der Kirchengemeinde 1986, in der er der Umgestaltung des Kreuzaltars ein eigenes Kapitel widmet.

 

Das 19. Jahrhundert brachte die Rückkehrt der Gotik. Das bekannteste Beispiel ist der Kölner Dom. Jahrhunderte lang prägte ein Baukran auf dem unvollendeten Südturm die Stadtsilhouette, nun trieb der Dombauverein die Fertigstellung des Bauwerks an. Diese Beschäftigung mit der Gotik als angeblich deutschen, aber definitiv katholischem Stil– die vorhergehende Generationen eher schauderhaft fanden – wirkte sich bis nach Dinslaken aus. Pfarrer Friedrich Wilhelm May und der Kirchenvorstand planten nämlich, den Kreuzaltar, der mit seiner Spannbreite von 6,70 Metern im geöffneten Zustand Jahrhunderte lang als überdimensionierter Nebenaltar diente, nicht nur zu erhalten, sondern als Hochaltar eine zentrale Bedeutung zukommen zu lassen. Und dazu sollte der Kölner Bildhauer Christoph Stephan einen neuen Unterbau schaffen: Predella und Altartisch in rheinischer Neogotik par excellence.

 

Doch da rumorte es in der Gemeinde. „Eingesessene der hiesigen Gemeinde“ witterten Geldverschwendung, der Pastor berief sich auf die Einbindung von Bistum und Königlicher Regierung. Und er drohte: Entweder nehme die Gemeinde selbst das Geld in die Hand, um einen Totalschaden an dem Kreuzaltar zu vermeiden – oder er würde verkauft. Das Interesse an gotischer Kunst war schließlich auch bei privaten Sammlern enorm. Das saß, der Auftrag in Höhe von 1400 Thalern wurde erteilt.

 

Die Finanzierung wurde aus Spenden gestemmt. Zu 3 Pfennig pro Woche wurden die Gemeindemitglieder verpflichtet, Händler gaben auch schon mal einen Silbergroschen. Und Christoph Stephan,der auch für den Kölner Dom arbeitete, schuf ein monumentales Werk, das heute, bei einer möglichen Rückkehr in den alten Chor, gar nicht mehr ohne weiteres aufgestellt werden könnte: Pfarrer May stand im 19. Jahrhundert noch mit dem Rücken zur Gemeinde am neogotischen Altartisch. Um den frei stehenden Altartisch der modernen Liturgie zu ergänzen, müsste der Chorraum vergrößert werden.

 

Maria und Joseph auf Wanderschaft, die bewegte Geschichte des Marien- und des Josephs-Altars von Ferdinand Langenberg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Retabel und die es stützende Predella des Marienaltars von Ferdinand

Langenberg in der St. Vincentiuskirche

Foto: Bernhard Kösters

 

Dinslaken Nach der Umwandlung des Kreuzaltars in den neuen Hochaltar 1853 gingen die Modernisierungen zum Ende des 19. Jahrhunderts in St. Vincentius weiter. Und dafür musste der ehemalige Hochaltar, ein Marienaltar aus dem Rokoko, vollständig aus der Kirche weichen. Er wurde, so berichtet Willy Dittgen in den „Stationen“, für den Holzwert nach Walsum verkauft.

 

Mit dem Anblick auf den prachtvollen Kreuzaltar war man auf den neogotischen Geschmack gekommen. Ein Irrtum vielleicht, aber mehr als eine modische Schwärmerei: Seit Goethes Lob auf das Straßburger Münster galt die aus Frankreich stammende Gotik als deutsch und aufgrund ihrer zeitlichen, vorreformatorischen Eingrenzung als katholisch. Neogotik als Statement des katholischen Rheinlands gegen das protestantische Preußen, für Dinslaken bedeutete dies für die nächsten 100 Jahre Maria und Joseph auf Wanderschaft.

 

Zwischen 1891 und 1893 tauschte Karl Theodor Schönborn, Pastor in St. Vincentius von 1874 bis 1899, nicht nur den Marienaltar gegen ein neogotisches Pendant aus, er erwarb für die Nordseite einen Josephaltar samt Hl. Grab. Um einen einheitlichen Gesamteindruck zu schaffen, schuf eine dreiteilige neogotische Kommunionbank die Achse zwischen den beiden neuen Seitenaltären. Optisch erschien sie zudem, von der Gemeinde aus gesehen, als „Unterbau“ des Altartisches und der Predella von Christoph Stephan, auf dem das originale alt-flämische Retabel seine Flügeltüren ausbreitete. Zwei Beichtstühle wurden auch noch angeschafft.

 

Die Herrlichkeit währte nicht lange. Die Seitenaltäre und die Kommunionbank stammen aus der Werkstatt von Ferdinand Langenberg in Goch. Dort wurden um 1900 Kirchenaus-stattungen in vergleichsweise hoher Stückzahl geschaffen. Die Holzschnitzereien sind bis ins Detail handwerklich meisterlich. Aber der Neogotik wird, wie dem Historismus insgesamt, mangelnde Eigenständigkeit vorgeworfen. Der abwertende Begriff „Schreiner-Gotik“ erklärt sich von selbst.

 

Und so wurde, als die Kirche 1951 in ihrer jetzigen Gestalt wiedereröffnet wurde, zwar das Retabel des Kreuzaltars samt seines neogotischen Unterbau im neuen Chor aufgestellt, von den Seitenaltären jedoch blieb nur die Marienfigur in einer gemauerten und weiß gekälkten Nische. Der Rest landete, teils demontiert, im Turm. Als „Bilderstürmer“ bezeichnet der Vorsitzende des Förderkreises kirchliche Kunstgegenstände Pfarrei St. Vincentius Dinslaken, Wolfgang Krüsmann, den Pastor jener Nachkriegszeit, Wilhelm Grave. Auf ihn folgte 1977 Pastor Bernhard Kösters. Musikalisch, kunstsinnig, kompetent. Ihm verdankt St. Vincentius die Wertschätzung, den Erhalt und die Rettung so mancher Kunstschätze von St. Vincentius.

 

Kösters sorgte dafür, dass der Josephaltar zurück in den alten Teil der Kirche geholt wurde und dass das Retabel des Marienaltars restauriert und an seinem heutigen Platz angebracht wurde. Mit seinem Altartisch konnte es nicht mehr vereinigt werden, dieser dient seit der Liturgiereform nach dem 2. Vatikanischen Konzil als Hauptaltar.

 

Die Kommunionbank mit ihren symbolischen Darstellungen von Brot und Wein – Ähren, Trauben und zwei Engeln, die auf das himmlische Brot, den Leib Christi verweisen – wurde 1951 ans Marienhospital Wesel verkauft, dort in der Kapelle bald auch nicht mehr gebraucht und eingelagert. In den 80er-Jahren entdeckte sie ein Krankenhausmitarbeiter auf dem Speicher und erkannte ihre Zugehörigkeit zu St. Vincentius. Pastor Kösters holte sie zurück nach Dinslaken.

 

Und dann fand man noch eine neue Lösung für die Langenberg-Altäre. Der Altartisch unterm Joseph-Retabel, desen Gesprenge, das filigrane Schnitzwerk oben auf dem Retabel, verloren ist, ist eine Neuschöpfung des Schreinermeisters Michael Krüsmann unter Verwendung des historischen Antipendiums, die für die Werktagsmessen hervorgezogen werden kann. Der ursprüngliche Kastenaltar mit dem Hl. Grab erhielt ein schlichtes Antipendium und steht nun unterm Retabel des Marienaltars, von dem auch das Gesprenge inzwischen restauriert ist. Kirche in Bewegung.

 

Von Pastor Schönborns Versuch, St. Vincentius ein einheitliches Gepräge zu geben, ist nichts geblieben. Aber die Szenen der Altäre, Mariä Verkündigung und Heimsuchung, Geburt Christi und Darstellung des Herrn, sind in sich geschlossene, detailreiche Kompositionen, die auch heute dazu einladen, sich die biblischen Geschehen vor Auge zu führen und im Bild mitzuerleben.

 

Quelle: NRZ 14.12.2020