Glockenstreit in Dinslaken


von Ronny Schneider


Gehören der Friedhof von St. Vincentius, der Kirchturm und die Glocken der Pfarrgemeinde oder der Stadt Dinslaken? Über diese Frage stritten zu Beginn des 19. Jahrhunderts beide Seiten. Der Streit entfachte, nachdem die Stadt die an den Kirchen gelegenen Friedhöfe außerhalb der damaligen Stadt an den heutigen Bereich des Neutors verlegte. Die über- flüssig gewordenen Plätze an St. Vincentius samt Kirchturm und Glocken betrachtete die Stadt Dinslaken ab sofort als städtisches Eigentum. Die Pfarrgemeinde St. Vincentius stimmte dem nie zu und so war die nicht geklärte Eigentumsfrage wie ein Schwelbrand, der immer neu aufflammen konnte. Die Stadt sprach von "städtischen Glocken" und vom "städtischen Turm", doch die katholische Gemeinde sah das ganz anders. Da der Stadtrat bis hin zum Bürgermeister traditionell stärker evangelisch war und oft auch in Personalunion mit den Mitgliedern des Presbyteriums der evangelischen Kirchengemeinde übereinstimmte, geriet der Konflikt Stadt und katholische Gemeinde unversehens auch zu einem Konflikt katholische gegen evangelische Gemeinde.


In Zeiten guter ökumenischer Nachbarschaft gab es in diesen Eigentumsfragen überhaupt keine Probleme. Bei der Einführung der neuen Pfarrer der Stadtkirche 1824 und 1858 und auch bei der Jubiläumsfeier zum 250jährigen Bestehen der evangelischen Gemeinde am 6. November 1861 hören wir vom fast freundschaftlichem Verhältnis zur katholischen Ge- meinde, das durch die Teilnahme der katholischen Geistlichkeit an diesem Ereignis bezeugt ist. Selbstverständlich läuteten zu diesen Anlässen neben den Glocken der Stadtkirche auch die Glocken von St. Vincentius. das gute Verhältnis zwischen den christlichen Konfessionen zeigte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch darin, dass das katholische Kon- sistorium bereit war, eine Gemeinschaftsschule beider Konfes- sionen in Dinslaken zu be- gründen.

 
Nach der Mitte des Jahrhunderts kam es langsam zu einer Störung des guten Verhältnisses
zwischen den beiden Konfessionen. Sie führte schließlich zu harten Auseinandersetzungen
zwischen der Stadtverwaltung und der katholischen Pfarrgemeinde bis hin zu gerichtlichen Klagen. Diese Streitigkeiten erregten die Bevölkerung sehr und störten lange Zeit den kon- fessionellen Frieden in der Bürgerschaft.


Ihren ersten Höhepunkt fanden diese Auseinandersetzungen mit dem Glockenstreit 1883. Martin Luthers 400. Geburtstag war am 9./10. und 11.November Anlass für große Luther- feiern. Das Fest sollte wie früher üblich auch durch die "städtischen Glocken" am Kirchturm von St. Vincentius mit eingeläutet werden. Pfarrer Karl Wilhelm Buchholz von der Stadt- kirche fragte seinen katholischen Amtsbruder an, doch Pfarrer Karl Theodor Schönborn verweigerte das Glockenläuten. Das Presbyterium stellte umgehend bei der Stadt den förmlichen Antrag zur Benutzung der Glocken. In einer außerordentlichen und sehr erregten Sitzung beschloss der Stadtrat am 2. November 1883 mit neun gegen eine Stimme, der evangelischen Gemeinde für die Lutherfeierlichkeiten das Läuten zu gestatten. St. Vin- centius schaltete die Regierung in Düsseldorf samt Oberpräsidenten ein und konnte die Ausführung des Ratsbeschlusses verhindern und auf den Rechtsweg verweisen. 

 

Die Streitigkeiten erreichten ihren endgültigen Höhepunkt zwei Jahre später. Im September 1885 sollte der neue Pfarrer der Stadtkirche Otto zur Linden eingeführt werden. Am 16. September 1885 bat der evangelische Küster darum, bei der Einführung des neuen Pfarrers zur Linden eine Stunde die Glocken zu läuten. Pfarrer Schönborn von St.Vincentius lehnte dies ab. Auch das Vorsprechen des Bürgermeisters Bernds und des Kirchmeisters konnten Schönborn nicht umstimmen.


Daraufhin berief der Bürgermeister noch am selben Abend den Stadtrat ein. Der Rat fasste den Beschluss, notfalls mit Gewalt den Turm zu öffnen und die Glocken zu läuten.


Tags darauf brachen ein Gendarm, zwei Polizeidiener und mehrere Arbeiter die Turmtür von St. Vincentius auf. Der katholische Pfarrer Schönborn protestierte heftig. Mitglieder seiner
Pfarrgemeinde hatten vorsorglich die Seile der Glocken abgehängt, doch die städtischen Arbeiter hatten vorausahnend neue Seile dabei und läuteten die Glocken.


Die Pfarrgemeinde St.Vincentius liess sich dieses Vorgehen nicht gefallen und erstattete am
1.Oktober 1885 eine Anzeige gegen die Stadtverordneten Dr. med. Böing und Geheimrat
Feldmann, die im Auftrage des Bürgermeisters diese gewaltsame Aktion leiteten. Gleich- zeitig klagte der katholische Kirchenvorstand gegen die Stadt wegen Besitzstörung. Die Stadt ihrerseits beschloss am 16. März 1886 die Frage des Eigentums an Friedhof, Turm und Glocken gerichtlich klären zu lassen. Dieser Rechtsstreit ging zuungunsten der Stadt aus im November 1888 vor dem Landgericht in Duisburg und in zweiter Instanz vor dem Berufungsgericht in Hamm. Damit war endgültig das Eigentum der katholischen Gemeinde am Kirchhof, am Kirchturm, den Glocken und der Turmuhr festgelegt worden. Durch diese jahrelangen Auseinandersetzungen verhärteten sich die Fronten zwischen Protestanten und Katholiken in Dinslaken erheblich.