Beethoven und das Pendel des Doktors
von Bettina Schack

 

STADTHISTORIE. Dr. med. Wilhelm Böing kurierte vor 120 Jahren Kranke, stritt im Stadtrat, trieb die Gründung der ersten Berufsschule Dinslakens voran und widmete sich in seinem Haus gegenüber der Stadtkirche astronomische Forschungen.

DINSLAKEN. Die Altstadt vor 120 Jahren. Im ersten Stock des großen Hauses auf der Duisburger Straße gegenüber der Stadtkirche sitzt ein Mann am Klavier und spielt Beethovensonaten. Die Wände sind mit blauer Tapete verkleidet, der Fußboden mit Zahlen und Zeichen beschrieben. Die wuchtigen Akkorde sind bis auf die Straße zu hören, der Mann spielt mit Ausdruck und Leidenschaft, weniger mit Technik. Unterricht hat er nie gehabt. Doch gehört er zu den bestausgebildetsten, engagiertesten und beliebtesten Dinslakenern seiner Zeit: Dr. Wilhelm Böing, Mediziner und erster Beigeordneter der Stadt.

Seine Nichte Margarete Böing hat den hochgewachsenen Mann in ihrem jüngst neu veröffentlichten Roman „Kämpfer“ liebevoll verewigt. Doch auch beim Blättern in stadthistorischen Veröffentlichungen und Dokumenten stößt man auf diesen interessanten Mann, der sein kurzes Leben in den Dienst für andere stellte, und seine kleinen Freiräume der Wissenschaft und der Musik widmete. Ein charismatischer Dinslakener im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Wilhelm Böing wurde 1844 als eines der sieben Kinder des Arztes und Kommunalpolitikers Johann Wilhelm Böing geboren. Dieser war 30 Jahre zuvor aus Hohenlimburg nach Dinslaken gezogen, während der ältere Bruder, der Ahnherr der Flugzeugpioniere Boeing, nach Amerika auswanderte. Wilhelm übernahm die Praxis seines Vaters und wohnte bis zu seinem Tod 1898 im Elternhaus auf der Duisburger Straße.

Dieses so genannte Voss'sche Haus wurde 1756 von Adam Grube erbaut, es war Dinslakens Apotheke. In Richtung der heutigen Stadthalle erstreckte sich ein große Garten, hier pflanzte Grube seine Heilkräuter an. 1841 verkaufen seine Erben das Haus, tauschen es gegen eine andere Immobilie ein – der Vorgängerbau der heutigen Adler-Apotheke.

Das Apothekerhaus wurde zum Arzthaus – und zur Wunderkammer. In einem Raum soll Dr. med. Wilhelm Böing ein riesiges Pendel aufgestellt haben. Tatsächlich bestätigt Margarete Böing, dass die Forschungen des Arztes auf das Pendelgesetz aufbauen. Zahlenreihen und Markierungen zeichnete er auf den Fußboden, die Notizen zu seinen Versuchsreihen hielt er auf winzigen, mit feiner Hand beschriebenen Kärtchen fest. Astronomie, Meteorologie, Chemie und Bakteriologie, Böing erkundete den Mikro- wie den Makrokosmos. Und arbeitet als Armen- und Knappschaftsarzt, bestritt den Lebensunterhalt für sich und seine drei unverheiratet gebliebenen Schwestern. Platz für eine eigene Familie sollte ihm nicht bleiben.

Doch er fand Zeit, sich ab 1880 wie sein Vater für die Stadt Dinslaken zu engagieren. Die Akten des Jahres 1896 belegen dies: Er ist erster Beigeordneter, gehört der Armen-, der Sanitäts und der Staatseinkommensteuer-Vorschätzungs-Commission an, ist Mitglied der Landbürgermeisterei-Versammlung. Und er ist im Vorstand der gewerblichen Fortbildungsschule, einem Vorläufer des heutigen Berufskollegs, dessen Ansiedelung in Dinslaken er voran trieb. Die Lehrlinge lernten als drittes Fach neben Mathematik und Deutsch Zeichnen.

Böing selbst dichtete. Schräge Gelegenheitspoesie zwischen Liebeslyrik und Biologie, zusammengehalten durch Ironie. Und wenn sich abends Freunde zum Plündern des umfangreichen Weinkellers einluden, tauschte er sein Beethovenrepertoire gegen Rheinlieder ein. Dann konnte man die Dinslakener Honorationen bis auf die Duisburger Straße singen hören.

 

Anekdote:

WIE BEI DON CAMILLO
Von wegen „gute alte Zeit“. In den 1880ern war das gute Verhältnis der katholischen und evangelischen Gemeinden gestört. Wie es in der „Stadtgeschichte von Dinslaken“ zu lesen ist, stritten sich Kirchen und Stadt um Friedhofsrechte. 1885 eskalierte die Auseinandersetzung, es kam zur „Glockenaffäre“. Um den evangelischen Christen das Läuten der Glocken zur Einführung deren neuen Pfarrers zu ermöglichen, ließ die Stadt den Glockenturm am Marktplatz tatsächlich mit Polizeigewalt stürmen. Der katholische Kirchenvorstand erstattete Anzeige, Friedhof, Turm und Glocken wurden 1888 und - in zweiter Instanz – 1889 der katholischen Gemeinde zugesprochen. Treibende Kraft bei der Berufung: der mitangeklagte evangelische Stadtverordnete Dr. Wilhelm Böing: er habe die Streitfrage ein für alle Mal klären wollen, um die erhitzten Gemüter zu beruhigen.